Nackt ohne Scham

Corbin Gams

Nackt ohne Scham

Mit einem liebenden Blick angesehen zu werden, das ist die tiefe Sehnsucht im menschlichen Herzen. Ein Impuls zur Theologie des Leibes.

Was für ein Satz in der Genesis: „Beide, der Mensch und seine Frau waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.“ In unserer Gesellschaft vergeht kein Tag, an dem nicht im Fernsehen, in der Zeitung und auf Plakaten halbnackte oder nackte Körper zu finden sind. Sie sollen uns animieren, irgendwelche Dinge zu kaufen oder wollen uns an unsere Lust erinnern, die befriedigt werden will. Der nackte Leib wird immer mehr instrumentalisiert, gebraucht beziehungsweise missbraucht.

Scham ist – so könnte man sagen – eine Form des Selbstschutzes, eine Scheu vor den Blicken und Taten eines Menschen, der unsere gottgegebene Würde nicht respektiert. Jeder Mensch weiß tief in seinem Herzen, dass er nie, niemals als Objekt für die Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse eines anderen Menschen missbraucht werden darf. Doch die Erfahrung lehrt uns schmerzhaft, dass es Männer und Frauen gibt, die den Körper anderer Menschen zur Stillung ihrer Begierde benutzen. Deshalb bedecken wir uns, nicht weil unser Köper schlecht wäre und wir uns für ihn schämen müssten, sondern um unsere Würde zu bewahren. In diesem Sinne kennen wir alle die Erfahrung der Scham.

Die Sehnsucht, mit einem liebenden Blick gesehen zu werden
Manchmal kann der Eindruck entstehen, dass in unserer Gesellschaft die Scham – also diese Form des Selbstschutzes - verloren zu gehen scheint. Augustinus sagt, dass es die tiefste Sehnsucht des Menschen ist, mit einem liebenden Blick zu sehen und angesehen zu werden. Der Mensch sehnt sich danach, Gott zu schauen und von Gott angeschaut zu werden. Wie viele Schrifttexte bezeugen das! Wenn Christus Menschen begegnete, heißt es: „Und er blickte ihn an“ (Joh 1,42). Menschen, die sich lieben, werden nicht müde einander anzuschauen. Wohl jede Frau sehnt sich danach, von einem Mann in ihrer Schönheit erkannt zu werden. Möglicherweise ist das der Grund, dass sich viele Frauen und Mädchen so freizügig kleiden, dass es manchmal sogar das Schamgefühl anderer verletzt: um so den Blick eines Mannes auf sich zu lenken.

Die Tragik aber ist, dass sie dabei Gefahr laufen, nicht einem Blick der Liebe, sondern einem Blick der Begierde zu begegnen. Wenn Adam und seine Frau sich nicht voreinander schämten, dann gibt uns dies nach Johannes Paul II. einen Hinweis darauf, wie sie ihren Körper erlebt haben. Beide, Adam und Eva, waren erfüllt von der Liebe Gottes und daher frei, sich ohne Vorbehalt, ohne Einschränkung einander zu schenken und die Liebe des andern als Geschenk zu empfangen. Es gab nichts zu verbergen: keine Untreue, keine Lügen, keine Doppeldeutigkeiten. Keine Angst, die fragt: „Liebt er mich wirklich?“, keine Begierde, die auf die Schnelle befriedigt werden will, kein „Ja, aber …“.

Der Körper als Ausdruck des Inneren
Adam und Eva drückten mit ihrem Körper aus, was in ihrem Innern war. Die Liebe, die sie mit ihrem Leib zum Ausdruck brachten, war in völliger Übereinstimmung mit ihrem Wollen, Denken und Fühlen. Sie konnten sich vorbehaltlos schenken, weil jeder in die reine Absicht des anderen vertrauen konnte. Johannes Paul II. nennt dies die „innere Unschuld, die Reinheit der Absicht“. Eine Ahnung von dieser ursprünglichen Erfahrung ist auch in der Ehe und in der ehelichen Intimität spürbar. Das gegenseitige Sich-Öffnen, das „Einander-zum-Geschenk-machen“, wenn Menschen völlig in die gute Intention des Partners vertrauen können, wenn sie wissen, dass der Blick des andern ein Blick der Liebe ist. Johannes Paul II. schreibt darüber: „Nur die Nacktheit, die den Menschen zum Objekt für den Menschen macht, die Frau zum Objekt für den Mann und umgekehrt, ist die Quelle der Scham. Die Tatsache, dass sie, sich nicht voreinander schämten‘, will besagen, dass weder die Frau für den Mann noch er für sie ein Objekt war.“

Körper zeigt Berufung: Lieben und geliebt werden
Der Mann sah in der Frau und die Frau in dem Mann eine Person, die einzigartig und unwiederholbar war. Der nackte Leib des Mannes und der Frau zeigte die Bereitschaft, sich dem andern ganz zu schenken mit Leib und Seele, mit all seinen Fähigkeiten und mit all seinen Möglichkeiten, Liebe auszudrücken und Leben zu geben.

Was ist mit uns geschehen, dass wir die Liebe, die Sexualität, unseren Leib als Mann oder Frau so anders erleben? Zwei große Industriezweige leben davon, dass Männer empfänglich sind für Konkupiszenz und Frauen ihren Körper nicht als schön erkennen: die Pornographie und der große Markt der Mode und Kosmetik. Adam und Eva wussten, dass sie „gut“ waren. Sie wussten um Gottes wundervollen Plan der Liebe. Sie konnten ihren Leib anschauen und darin ihre Berufung, den Sinn ihres Lebens erkennen – nämlich zu lieben und geliebt zu werden. Viele Menschen erleben das oft anders. In ihnen ist ein Misstrauen, eine Angst, zurückgewiesen zu werden, die Angst, dass ihre Liebe missbraucht werden könnte. In unser aller Herzen ist die Angst, dass wir nicht um unserer selbst geliebt werden. Doch tief in unserem Herzen spüren wir eine Sehnsucht nach mehr! Die tiefste Sehnsucht des Menschen ist die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Liebe, nach Leben in Fülle.



Anmerkung der Redaktion:

Der vorliegende Beitrag ist von Corbin Gams. Wir danken für die Möglichkeit seine Gedanken zum Thema Anthropologie, Liebe und Sexualität veröffentlichen zu dürfen. (Erstveröffentlichung bei „Die Tagespost“)


Der Autor

Corbin Gams wurde 1966 in Wäschenbeuren (Kreis Göppingen) geboren. Nach seinem Theologiestudium arbeitete er in verschiedenen Gemeinden und kirchlichen Projekten. Der Theologe ist Leiter des  Studienganges „Theologie des Leibes“ an der päpstlichen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz. Zudem ist er gefragter Referent für Themen rund um die Familie und die Theologie des Leibes in allen deutschsprachigen Ländern. Der Studiengang selbst ist in der Trägerschaft der „Initiative Christliche Familie“ der österreichischen Bischofskonferenz.


Buchtipp:

Das Buch „Eine Vision von Liebe“ von Birgit und Corbin Gams bietet eine gute Einführung in die Gedanken von Johannes Paul II. und seiner Theologie des Leibes.

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